Retinoblastom – Mit Augenprothese, aber ohne Samthandschuhe
Wie Kinder mit der Krankheit Augenkrebs im Leben klar kommen
Retinoblastom. Nur ein Wort. Ein Wort, das die wenigsten Menschen kennen, je gehört haben. Und doch löst es Ahnungen aus. Unheilvolle, keine guten. Und diejenigen, die durch einen Arzt zum ersten Mal in ihrem Leben davon konkret erfahren, werden diesen Moment wahrscheinlich nie vergessen. Den Eltern der heute fünfjährigen Julia Fischer im Rheinland dürfte es so gehen. Das Retinoblastom ist Krebs, die häufigste Krebserkrankung im Auge eines Kindes. Ein bösartiger Tumor in der Netzhaut. Da das Wachstum des Retinoblastoms nur von unreifen Netzhautzellen ausgehen kann, tritt der Tumor nur bis zum fünften Lebensjahr eines Kindes auf. So ist es in der medizinischen Literatur beschrieben. Julia – sie kam mit Kinderaugenkrebs auf die Welt.
„Ich wollte sie immer haben“
Es war so eine unkomplizierte Schwangerschaft. Ebenso die Geburt der kleinen Julia. „Alles easy“, erinnert sich Charlotte Fischer*, Julias Mutter. Sie lacht, so als wäre diese Zeit erst gestern gewesen. Zwei gesunde Mädchen, damals neun und acht Jahre alt, haben sie und ihr Mann Sebastian bereits, die Vorfreude auf Julia ist groß. Bei allen. Eigentlich wäre damit alles gesagt, doch Charlotte Fischer formuliert es wie es wahrscheinlich nur eine Mutter kann: „Da ist noch jemand, der zu uns will. Ich wusste, dass es dieses Kind gibt. Ich wollte es immer haben.“ Im August 2006 kommt Julia in einem Krankenhaus im Rheinland zur Welt. Das Dreimädelhaus, es ist perfekt.
Um Julias Geschichte besser zu verstehen, ist es sehr wohl wichtig, zu wissen was für ein Kind sie ist: ein strahlendes, ein fröhliches, ein kraftvolles. Ein Kind, das so viel Liebe gibt und Lebensfreude versprüht, beschreibt Charlotte Fischer ihre Tochter. Welchen Wert diese Qualitäten wirklich einmal haben wird im Leben ihres Kindes ahnen sie und ihr Mann lange nicht. Auch nicht, als im Sommerurlaub 2007 in den Bergen eine Freundin der Familie auffällt, dass „das Kind schielt“ und den Eltern rät „zum Augenarzt zu gehen“.
Schielen bei Kleinkindern – hin und wieder – das kennt man, nichts ungewöhnliches. Aber natürlich gehen die Eltern mit Julia – sofort nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub – zu einem Augenarzt in Düsseldorf. Es ist der 13. August 2007. Ein Datum, das sich in die Erinnerung der Eltern eingebrannt hat. Julia ist ein Jahr alt. Und es fällt in der Praxis nach kurzer Untersuchung nur dieser eine Satz: „Da ist was.“ Man überweist die Familie nach Essen in das Universitätsklinikum, denn dort, so der Augenarzt, seien die Spezialisten: „Da werden Sie schon sehen.“ Die Eltern kämpfen darum noch am gleichen Tag in Essen angehört zu werden. Charlotte Fischer erinnert sich an den allerersten Gang nach Essen, ohne konkrete Diagnose vom überweisenden Arzt, nur mit diesem schrecklichen Gefühl. Und dieser Angst: „Da ist dieser Aufzug. Und da ist diese tönerne Durchsage „Sehschule und Tumorabteilung“. Welche Mutter denkt an so einen Ort, will diesen je betreten, mit dem eigenen Kind auf dem Arm.
Mit einem Schlag ändert sich das ganze Leben
Julia wird untersucht. Ausführlich. Drei Ärzte machen Tests. Die weiße Pupille, die auf Julias Babyfotos zu sehen ist – hier bekommt das Phänomen eine Erklärung: Die Pupille des Kindes stellt sich nicht, reagiert nicht auf Licht. Dann endlich spricht einer der Mediziner die Diagnose aus: „Retinoblastom. Bösariger Tumor in der Netzhaut. In beiden Augen.“ Sätze wie Schläge. Charlotte Fischer: „Ich habe geschrien, geweint.“ Ihr Mann, sagt sie, sei ganz sachlich geblieben. Vollkommen ruhig. Zwei Pole, die sich ergänzen. Sie sagt: „Unser Leben änderte sich. Das war klar.“
Chemo oder Bestrahlung?
Kann ein Kind mit fünf Jahren schon stark sein – für die Widrigkeiten, die ein Menschenleben so bereithält? Die kleine Julia Fischer ist es wohl. Als sie am 20. August 2007 – genau eine Woche nach der Krebsdiagnose – nach einer zweistündigen Operation im Universitätsklinikum Essen aus der Narkose erwacht, ist ihr rechtes Auge entfernt. Es bleibt eine dunkle Höhle. Das Kind schreit nicht, es jammert nicht. Es erträgt. In der Woche zwischen Diagnose und Operation herrscht Ausnahmezustand im Haus Fischer. Es ist für alle – auch für Julias große Schwestern – eine unglaubliche Belastung. In seinem Arbeitszimmer wälzt Sebastian Fischer Literatur, telefoniert mit Experten auf der ganzen Welt. „Ich wollte alles wissen, verstehen und bis ins Detail durchdringen“, sagt er. Er ist es seinem Kind schuldig. Und dieses Gefühl treibt ihn, hält ihn aufrecht. Sechs Wochen lang. Er recherchiert 24 Stunden am Tag, bis es nicht mehr geht, bis zur Erschöpfung: „Und dann kamen auch mir die Tränen.“ Mitten in der Nacht, er habe sie nicht mehr aufhalten können, sagt er ganz ruhig. Sein Weinen – Stunden hat es gedauert: „Es war ja nicht nur eine Krankheit, die ich versuchte in allen Facetten zu verstehen. Es war mein Kind, um das es hier ging und um dessen Leben ich kämpfte.“ Stille. Das Gespräch verstummt.
Sebastian Fischer, studierter Biologe und Jurist, wird zum Experten, mit dem die Ärzte seines Kindes fast auf Augenhöhe sprechen können. Seine Frau erinnert sich, dass ihr ein Arzt mal gesagt habe: „Fragen Sie ihren Mann.“ Therapievorschläge kommen von den behandelnden Ärzten nicht, die Eltern müssen allein entscheiden: Was mit ihrem Kind passieren, welche Behandlung Julia erhalten soll. Chemotherapie? Oder Bestrahlung? Welche Risiken gibt es? Wer hilft uns abzuwägen? Und was ist mit dem Tumor im zweiten Auge? Lassen wir auch das entfernen und nehmen unserem Kind das Augenlicht? Unvorstellbar, was Eltern manchmal beantworten müssen.
„Dein Kind leitet dich“
Doch die beiden finden ihren Weg für ihr Kind. Nicht zuletzt mit Hilfe von vielen Freunden, mit denen im Haus eine Woche lang bis tief in die Nacht diskutiert wird. Dazwischen Krisen, furchtbare Krisen, gerade bei Charlotte Fischer, die nicht weiß wie ihre kleine Tochter dieses Schicksal ertragen soll. Eine Freundin, die ebenfalls ein krankes Kind hat, gibt ihr die berührende Antwort: „Dein Kind leitet dich.“ Was so überirdisch klingt, erweist sich in den kommenden Wochen und Monaten als wahr. Julia erträgt ihr Schicksal: Die erste Augenprothese und die Strahlentherapie.
Doch der Weg ist noch weit, denn es kommt noch die Bestrahlung des anderen Auges. Wochenlang leben Mutter und Kind in der Klinik. 50 Kilometer weiter, daheim im schönen Haus der Familie, versucht ihr Mann mit den beiden großen Töchtern klar zu kommen. Die Gedanken immer in Essen. Eine Parallelwelt nennt Charlotte Fischer den Treffpunkt für die kleinen, jungen Krebspatienten. Irgendwo in den Katakomben der Uni-Klinik sitzen die Kinder – mit kahlen Köpfen, manche verängstigt, erschöpft, manche ruhig, andere jämmerlich – und warten mit ihren Eltern darauf, aufgerufen zu werden. Charlotte Fischer erinnert sich an diese Zeit, die nun vier Jahre zurückliegt: „Ich fühlte mich oft ohnmächtig. Die Angst kommt immer noch in Wellenbewegungen.“ Ihr Leben, sagt sie, sei reicher geworden, aber auch nicht mehr so unbeschwert. Regelmäßig fahren Mutter und Tochter in die Parallelwelt. Klinikum Essen, Aufzug, Tumorabteilung. Alle drei Monate. Zur Kontrolle. Was für Charlotte Fischer eine psychische Belastung ist, ist für Julia fast „wie ein Fest“. Dabei ist nämlich immer ein eigener Korb voller Spiele. Julia liebt diese Spiele. Die Mutter weiß, sie helfen nicht nur im Hier und Jetzt, sie helfen ihrem Kind auch, sich als junge erwachsene Frau in vielen Jahren zu erinnern, an ein gutes Bild aus einer dunklen Zeit. Menschen brauchen Bilder, schöne Bilder. „Sie können helfen“, ist Charlotte Fischer überzeugt „sich vor dem eigenen Schicksal zu verbeugen“. Das klingt schön. Hoffnungsvoll. Optimistisch.
Sabine Kuenzel