Niemann-Pick
Jeden Tag leben wie er kommt
Es war Alberto Vargas‘ Geburtstag, als er die endgültige Nachricht erhielt, dass seine jüngste Tochter, Valeria, die Niemann-Pick-Erkrankung hat. Seine mittlere Tochter, Fernanda, war da schon an dieser unheilbaren degenerativen Krankheit verstorben.
„Es war herzzerreißend. Meine Frau legte sich ins Bett und weinte vier Tage lang. Schließlich sagte ich ihr ‚Willst Du hier noch lange weinen oder wollen wir zusammen weitermachen?‘ Meine Frau sagte ‚Du verstehst es nicht‘, und ich sagte ‚Oh doch, ich versteh’s, aber wenn wir beide hier sitzen und weinen, wer soll sich dann um das kleine Mädchen kümmern?“
So machten sie schließlich weiter, wie sie es schon immer getan hatten. Wenige Tage nachdem die Diagnose Niemann-Pick (NP) bei Fernanda gestellt worden war, hatte Familie Varga eine schon lange geplante Reise nach Disneyland angetreten. „Fernanda kam damals auf alle Ausflüge mit und hatte großes Vergnügen, obwohl sie sich sagte, dass sie uns bald verlassen müsste“, erinnerte sich Alberto.
Valeria konnte 2007, als sie 11 Jahre alt war, nicht mehr laufen. Aber bei den Special Olympics in Shanghai gewann sie in den Schwimmwettbewerben zwei Goldmedaillen. „Wir hatten sie für einen 15-Meter-assistierten Lauf (mit Armbändern) trainiert. Aber die Chinesen sagten, es müssten 25 Meter sein und ohne Assistenz sein. Im ersten Rennen ging sie bei der 15-Meter-Marke unter. Aber dann steckte sie ihren Kopf aus dem Wasser, lächelte und schwamm die Distanz zuende,“ berichtet stolz ihr Vater.
Fernanda, noch im Alter von14, hatte auch diese Fröhlichkeit. „Sie konnte nicht mehr sprechen, aber ihr Lächeln sagte uns, wie zufrieden sie ist“, erinnert sich Alberto. „Sie starb 10 Tage später, heiter und in der Hoffnung, uns eines Tages im Himmel wiederzusehen.“
NP ist nicht eine einzige Krankheit, sondern eine ganze Familie von erblichen Stoffwechselkrankheiten, die zur Speicherung toxischer Lipide in Leber, Milz, Lunge und Gehirn führen. Diese Organe verlieren ihre Funktion, bis die Patienten – meist Kinder – nicht mehr gehen, sprechen oder essen können. Eine Heilung gibt es nicht.
Die Ursache der Typen A und B der NP ist ein Mangel des Enzyms Sphingomyelinase mit der Folge einer Speicherung von Sphingomyelin. NPA wird schon im Neugeborenenalter mit schweren neurologischen Störungen manifest. Die Kinder sterben meist im Alter von drei Jahren. NPB liegt am anderen Ende des Spektrums: Das Gehirn ist nicht betroffen, und die ersten Krankheitszeichen treten evtl. erst im Erwachsenenalter auf. Die Patienten können ein relativ normales Leben führen.
Bei Fernanda und Valeria war eine NP Typ C diagnostiziert worden. Die Entwicklung dieser komplexen genetischen Krankheit ist noch nicht vollständig aufgeklärt, aber das Ergebnis ist ähnlich ungünstig, der Untergang von Körperzellen durch Speicherung in diesem Fall von LDL-Cholesterin. Oft beginnen die Symptome im Schulalter. Die Krankheit wird manchmal auch ‚kindlicher Alzheimer‘ genannt, da Demenz eines der Symptome ist.
Da die Krankheit viele Organe beeinträchtigt und die Symptome sich nur langsam entwickeln, wird NPC über Monate oder sogar Jahre nicht korrekt diagnostiziert. Isabel Hontanilla bemerkte bei ihrem Sohn Samuel, als er 3 Jahre alt war, eine Vergrößerung der Milz. Aber ihre deshalb immer wieder gestellten Fragen blieben ohne Antwort. Im Alter von 8 Jahren wurde der Junge ungelenk, äußerte sich nur noch einsilbig und bekam Probleme beim Lesen. „Die Ärzte sagten, es sei eine Lernstörung, dann sollte es eine Dyslexie sein, dann war es wieder etwas anderes… Erst als er 11 Jahre alt war, wurde bei ihm die Diagnose Niemann-Pick gestellt,“ sagte Isabel.
Für Toni Mathieson war die Fehldiagnose eine traumatische Erfahrung. Als sich bei ihrem neugeborenen Baby, Lucy, ein Auftreibung des Leibes entwickelte, hahm das der erste Arzt nicht ernst, sondern meinte „nur Luft“. Ein anderer hielt danach ihre Krankheit irrtümlich für NPA und sagte Toni, sie möge ihr Kind zum Sterben mit nach Hause nehmen. Tatsächlich hatte Lucy NPC und wurde 41/2 Jahre alt.
Isabel und Toni leiten jetzt die Niemann-Pick-Selbsthilfegruppen in Spanien (Fundación Niemann-Pick) bzw. Großbritannien (Niemann-Pick Disease Group). Eine dieser Gruppen will unter den Ärzten das Bewusstsein für diese Krankheit schärfen, von der die meisten noch nie gehört haben ¹, damit sie die Krankheit frühzeitiger diagnostizieren und den Eltern durch Information über Selbsthilfegruppen helfen können.
„Die Diagnose selbst ist schon schockierend, aber nicht zu wissen, was los ist, ist noch schlimmer“, sagte Isabel. „Und trotzdem bricht die Welt zusammen, wenn Du es erfährst. Da ist es dann sehr hilfreich, wenn man mit jemandem sprechen kann, der es schon durchgestanden hat. Dann weißt Du, Du bist nicht allein. Dann kannst Du anfangen, die Krankheit zu verstehen, sie zu akzeptieren und zu realisieren, dass Du eine Menge für diese Kinder tun kannst.“
Die Selbsthilfegruppen können betroffenen Familien auch Lasten abnehmen, bei der Beschaffung finanzieller Unterstützung oder von medizinischen Hilfsmitteln, z.B. Rollstühlen. Sie können genetische Tests bei Verwandten organisieren, die evtl. heterozygote NP-Träger sind und sie können dabei helfen, dass auf die Bedürfnisse auch der gesunden Geschwister geachtet wird, die bei solch kräftezehrenden Krankheiten zu oft nur in der zweiten Reihe sitzen.
Zwar gibt es für NP noch keine Heilung, aber die Forschung über lysosomale Speicherkrankheiten macht weiterhin Fortschritte, besonders auch dank der Einwerbung von Finanzmitteln durch Patientenorganisationen, wie z.B. der beiden NP-Gruppen in Spanien und Großbritannien.
Leider verläuft die NPA so schnell und ist so aggressiv, dass eine Behandlung noch immer zu spät kommt. Aber Enzymersatztherapie, Knochenmark- und Lebertransplantation sind evtl. geeignet, bei NPB das Auftreten der Symptome hinauszuzögern. Und 2001 wurde eine Substanz in der EU als Orphan-Medikament für NPB gekennzeichnet.
Im Fall der NPC existieren mehrere mögliche Wege, das Fortschreiten der körperlichen Symptome zu verlangsamen und die Lebensqualität zu verbessern, obwohl eine Beeinflussung der neurologischen Probleme noch nicht in Sicht ist. Die sog. Substratreduktions-Therapie mit dem Medikament Miglustat erscheint besonders verheißungsvoll, sie wurde in den USA und in Europa zur Behandlung zugelassen und findet weite Verwendung. Geforscht wird auch über eine Anwendung von Cyclodextrin, das wie Miglustat den Cholesteringehalt der Körperzellen reduziert. Gearbeitet wird auch über N-Azetyl-Zystein, mit dem die Krankheit wahrscheinlich besser erkannt werden kann.
Obwohl aber Hoffnung auf Heilung noch in der Zukunft liegt, haben Toni, Isabel und Alberto gelernt, für jeden Tag dankbar zu sein, so wie er kommt. „Wir alle neigen dazu, Dinge auf den nächsten Tag zu verschieben und nicht das Beste aus dem zu machen, was wir haben“, sagte Isabel. „Aber durch eine solche Krankheit lernst Du, für den Augenblick zu leben.“
Samuel ist jetzt 20 Jahre alt und kann nicht mehr gehen oder sprechen, aber erfolgt interessiert dem Unterricht im College. Valeria, 15, ist Cheerleaderin des Schwimmvereins für Behinderte, den ihr Vater in Costa Rica leitet. Alberto erinnert sich: „Immer sagte ich zu Fernanda: ‚Du musst Deinen Kopf hochhalten, morgen ist der Tag besser als heute.‘“
¹„Understanding Niemann-Pick disease type C and its potential treatment“ by Jackie Imrie and Ed Wraith.
Dieser Artikel wurde zuerst in der Januar 2011 -Ausgabe des EURORDIS-Newsletter veröffentlicht.
Autor: Gillian Handyside
Übersetzer: Ulrich Langenbeck
Fotos: © A.Vargas & T.Mathieson