Dysmelie: Ein schwedischer Thalidomid-Geschädigter
Portrait eines militanten Europäers: Björn Håkansson, ein schwedischer Thalidomid-Geschädigter
Björn Håkansson, Präsident der Schwedischen Thalidomid-Gesellschaft NGO (FfdN), wurde 1960 in Schweden mit einer Dysmelie geboren. Diese bei den einzelnen Betroffenen sehr unterschiedlich ausgeprägte Fehlbildung zeigt sich bei ihm als unvollständige Entwicklung der Arme und Hände. Von den drei Fingern, die jede Hand trägt, können jeweils nur zwei benutzt werden. Seiner Mutter war in der Schwangerschaft Thalidomid als Schlafmittel verschrieben worden, denn anders konnte sie nicht mehr schlafen, seit sie ihre beiden älteren Kinder durch einen Autounfall verloren hatte. „Erst als ich zwei Jahre alt war, erfuhren meine Eltern, dass die Thalidomid-Tabletten die Ursache meiner Dysmelie waren“, sagt Björn Håkansson.
Nur wenige Medikamente haben eine so traurige Berühmtheit erlangt wie das Thalidomid. In den späten 1950er Jahren wurde es als Schlafmittel und zur Behandlung des morgendlichen Schwangerschafts-Unwohlseins eingeführt. Weltweit hat das Mittel bei Tausenden von Kindern angeborene Fehlbildungen verursacht: Die Schätzungen belaufen sich auf mehr als 10.000 Neugeborene in der ganzen Welt, davon 4.000 in Europa. Von 1957 bis 1963 wurden in Schweden 170 Kinder mit Thalidomid-Fehlbildungen geboren. Von ihnen überlebten 118.
“Ich glaube, ich war 5 oder 6 Jahre alt, als ich merkte, dass ich anders war. Aber trotzdem war meine Kindheit recht normal. Meine Familie lebte in einem kleinen Ort, ich ging zusammen mit Freunden zur Schule und lernte wie jeder andere auch“, erinnert sich Björn Håkansson. Tatsächlich war der Präsident der Schwedischen Thalidomid-Gesellschaft richtig sportlich! „Ich spielte Tennis und Fußball und wurde bei einer Schulmeisterschaft für Tischtennis Dritter“, berichtet er uns stolz.
Von 1963 bis 1975 besuchte Björn regelmäßig die Spezialsprechstunde für Thalidomid-Geschädigte im Eugenia-Heim in Stockholm. Dort erhielten die Kinder ein gezieltes Training und lernten alles, was man braucht, um im täglichen Leben unabhängig zu sein, z.B. Duschen, Anziehen und Schreiben mit einem Stift. Dieser umfassende Service mit Physiotherapeuten und Prothesetechnikern war von der schwedischen Regierung ins Leben gerufen worden.
Überraschenderweise waren damals nicht so sehr Björn Håkanssons Fehlbildungen das Problem, sondern seine Linkshändigkeit! „Mit links zu schreiben wurde in den 1960ern als falsch angesehen. Immer wieder kamen meine Lehrer und die Prothesentechniker darauf zurück“, erzählt uns Björn Håkansson. Als er sieben war, wurde er deswegen sogar mit einer Prothese ausgestattet, die es ihm ermöglichen sollte, mit der rechten Hand zu essen. Aber als er wieder zu Hause war, vergrub er sie gleich im Wald!
Im Jahr 1984 nahm Björn an der Ersten Jahrestagung der Schwedischen Thalidomid-Gesellschaft teil und wurde sofort in den Vorstand gewählt. Sein Vater schon seit 1962 Mitglied dieser Gesellschaft gewesen. Björn Håkansson arbeitete zu dieser Zeit ganztägig als Analysetechniker in einer Zuckerfabrik. Im Jahr 1993 kündigte er diese Arbeit, um sich einem ambitionierten Projekt der Schwedischen Thalidomid-Gesellschaft zu widmen. „Wir wollten ein Expertenzentrum für Thalidomid-Geschädigte aufbauen, und ich war für 6 Jahre der Projektleiter. Das Zentrum wurde 1993 im Rot-Kreuz- Hospital in Stockholm eingerichtet”, sagt Björn. Es erhielt den Namen Ex-Center, ist auch heute noch aktiv und versorgt Thalidomid-Geschädigte, Patienten mit Dysmelien anderer Ursache und Amputierte aus Schweden und ganz Europa.
Für Björn Håkansson ist dieses Zentrum einer seiner größten Erfolge. „Es war eines der ersten Expertenzentren, das eine Behindertenorganisation in Schweden gründete und das wie ein Krankenhaus arbeitet“, berichtet Björn Håkansson.
Ein anderer Höhepunkt im kämpferischen Leben von Björn Håkansson war das Jahr 2001, als die schwedische Regierung den Thalidomid-Geschädigten eine Kompensation gewährte. „Pro Person zahlten sie 55.000 Euro“, erfahren wir von Björn Håkansson. Und seit 1970 erhalten die Geschädigten in Schweden zwei Mal im Jahr von der pharmazeutischen Firma, die das Thalidomid vertrieb, eine finanzielle Unterstützung. Björn Håkansson weiß, dass die schwedischen Geschädigten im Vergleich zu anderen noch ‚glücklich‘ dran sind. Denn „es gibt Länder, wie z.B. Italien, die niemals eine Kompensation gewährt haben.“
Jetzt arbeitet Björn Håkansson an einem Projekt, das von der Schwedischen Thalidomid-Gesellschaft und dem Britischen Thalidomide Trust konzipiert wurde, dem Europäischen Referenz-Informationszentrum für Dysmelie (EDRIC). „Wir merkten, dass aus Altersgründen immer weniger von den Menschen erreichbar sind, die über Thalidomid arbeiteten und hierin große Kenntnisse erwarben. Wenn jetzt ein Kind mit einer Dysmelie geboren wird, haben die Eltern Probleme, noch einen Arzt zu finden, der diese Fehlbildung beurteilen und behandeln kann. Im Projekt EDRIC soll medizinische und historische Information gesammelt werden, um allen Menschen in Europa zu helfen“, sagt Björn Håkansson.
Björn Håkansson ist verheiratet. Seine Frau Ann ist selbst auch thalidomidgeschädigt. Ihr Haus in Südschweden ist nach ihren Behinderungen ausgestattet. “Unser Haus sieht wie jedes andere aus. Aber bei genauem Hinsehen merken Sie, dass wir besondere Hilfsmittel haben. Zum Beispiel in der Küche: Unser Schrank hat keine Türgriffe, sondern einen Druckknopf, und auf einen einfachen Druck hin kommen die Regale nach unten. Meine Frau hat einen besonderen Stuhl, der sie in die Höhe fährt, wenn sie Sachen mit ihren Füßen erreichen will. Unser Haus verschließen und öffnen wir mit einer elektronischen Fernsteuerung“, beschreibt Björn Håkansson einige Besonderheiten seines Hauses. Bezahlt wird alles dies von der Gemeindeverwaltung ihres Wohnortes.
Björn und Ann haben eine Tochter, Hannah. „Als wir ihr erklärten, dass unsere Mütter eine Pille verschrieben bekamen, die unsere Fehlbildungen verursachte, meinte sie, sie wüsste doch, dass die Menschen voneinander verschieden sind. So wären zum Beispiel in ihrer Schule Kinder mit roten Haaren. Sie hätte uns lieb, so wie wir sind, und alles andere sei unwichtig.“
Online-Gemeinschaften für Patienten mit seltenen Krankheiten
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Autor: Nathacha Appanah
Übersetzer: Ulrich Langenbeck
Fotos: Alle Fotos schließen aus Thalidomid © Paul Hansen/DN