Achondroplasie – In einer Welt mit Großen leben
MIT EINER SELTENEN KRANKHEIT LEBEN
Marco ist 40 Jahre alt und kam als erster in seiner Familie mit einer Achondroplasie zur Welt. Es ist das eine Krankheit des Knochenwachstums, mit der eines von etwa 15.000 Kindern geboren wird. Der Zustand wird autosomal-dominant vererbt, aber trotzdem haben 90% aller Patienten normale Eltern. Die Diagnose wurde bei Marco gleich nach der Geburt gestellt, aber er kann sich nicht mehr erinnern, wann seine Eltern ihm mitteilten, dass er eine Achondroplasie hat. „Ich habe es wohl gemerkt, als ich mich mit meinen Brüdern und meiner Schwester verglich“, sagt Marco grade heraus. Diese seltene Störung des Knochens ist erkennbar als eine Form von Kleinwuchs mit unproportioniert kurzen Armen und Beinen und oft großem Kopf. Der Ausdruck ‚Achondroplasie‘ bedeutet wörtlich ‚ohne Bildung von Knorpel‘, das Problem ist aber nicht die Bildung von Knorpel, sondern die Umwandlung des Knorpels in Knochen, besonders ausgeprägt an den langen Knochen.
Schikaniert, eingeschüchtert, ein Ziel dummer Witze und alberner Spitznamen … mit einer Achondroplasie aufzuwachsen, kann sehr aufreibend sein. „Wenn Du noch ein Kind bist, sind die Probleme aber noch zu ertragen und meist schnell gelöst. Erst später, als Teenager, begann ich mich wirklich zu sorgen, denn eine Achondroplasie verstärkt alle Probleme, die Heranwachsende ohnehin schon haben, noch ein wenig mehr. Wieder bekam ich dumme Witze ab, zum Glück aber nicht mehr so oft. Es wäre aber wohl nicht viel anders gekommen, wenn ich fettleibig oder sowas ähnliches gewesen wäre“, erinnert sich Marco. Wie bezeichnet Marco sich selbst oder eine andere Person mit Achondroplasie? „Person mit Achondroplasie ist sicherlich der beste Ausdruck. Ich weiss, dass z.B. in den USA der Ausdruck ‚dwarf ‘, also Zwerg, häufig gebraucht wird, aber hier in Italien wäre das erniedrigend. Deshalb sagt man besser ‚Person‘. Aber natürlich bin auch ich ein Zwerg, männlich, Italiener, weiß, unverheiratet …“
Menschen mit Achondroplasie haben oft das Gefühl, unter ‚Riesen‘ zu leben. „Für die meisten von uns ist das ein Problem: In Geschäften erreichen wir nicht das Regal, die Kleidung ist für uns nicht geeignet, und manchmal müssen wir unser Haus umbauen. Außerdem kann der Kauf spezieller Kleidung und der Umbau des Hauses sehr teuer werden… Aber natürlich ist das nicht nur ein finanzielles Problem. In einigen Ländern kann es schon schwierig sein, in der Bar einen Kaffe zu bekommen oder einen Bus zu benutzen“, sagt Marco. Glücklicherweise ist Marco von den Problemen verschont, mit denen Patienten mit Achondroplasie in der Regel zu kämpfen haben: Atemprobleme (Apnoe), immer wiederkehrende Mittelohrentzündungen, Rückenschmerzen, fehlende Stabilität des Körpers oder Stenose des Wirbelkanals. Gelegentlich sind chirurgische Eingriffe erforderlich, z.B. um Deformitäten des Skeletts, wie verbogene Gliedmaßen, zu korrigieren oder um einer Kompression des Rückenmarks vorzubeugen. Bei einigen Patienten mit Achondroplasie werden Arme und Beine chirurgisch verlängert, aber „mehr ist nötig, damit wir uns in dieser Umgebung wohlfühlen“, sagt Marco.
Marco wurde chirurgisch behandelt, als er 14 Jahre alt war. „Das war 1982, und ich musste dafür nach Sibirien reisen, weil es solche Operationen in Europa nicht gab. Es war sehr schmerzhaft. Meine Mutter und ich waren 9 Monate von zuhause weg“, erinnert sich Marco. „Heute finde ich es wichtig, immer daran zu denken, dass eine solche Operation zwar das Leben erleichtert, aber die Krankheit nicht beseitigt. Jetzt gibt es auch in Italien und Spanien Krankenhäuser, in denen solche Operationen durchgeführt werden.“
Marco arbeitet in einer multinationalen Firma als Geschäftsberater. Außerdem ist er freiwilliger Mitarbeiter in der Gesellschaft für Informationen und Studien über Achondroplasie (Associazione per l’Informazione e Lo Studio sull‘ Acondroplasia, AISAC). Diese italienische Organisation von Patienten mit Achondroplasie ist auch Mitglied von Eurordis. „Immer war ich aktiv, besonders auch im Kampf gegen meine eigene Krankheit. Ich erinnere mich noch an die Zeit vor einigen Jahren, als ich zum ersten Mal an einem Meeting von Eurordis teilnahm und auf einmal eine ganze Menge begriff: Wie wichtig wissenschaftliche Forschung ist, wie ein einziges Gesetz für viele Menschen mit einer seltenen Krankheit Probleme löst, und wie ungleich der Kampf sein kann, wenn Patienten versuchen, etwas mehr Aufmerksamkeit bei einigen Wissenschaftlern und pharmazeutischen Firmen zu erhalten.
Wenn Marco, nach eigenen Worten, nicht für den „Wert von Vielfalt in der Gesellschaft“ kämpft oder wenn er sich nicht gerade intensiv in die aktuelle medizinische und soziologische Literatur über Achondroplasie vertieft, ist er ein ganz normaler Zeitgenosse. „Ich will eine anregende Arbeit mit guter Bezahlung haben, mit meinem Segelboot eine Weltreise machen und in einer besseren Welt leben…“
Dieser Beitrag erschien in der Dezemberausgabe 2007 unseres Rundbriefs.
Autor: Nathacha Appanah
Übersetzer: Ulrich Langenbeck
Fotos: Knochen © Clara Natoli; Francesca © Moscardo/Eurordis; Marco © Marco